Über Deutschlands schwierige Erkenntnis: Wir sind Einwanderungsland!
Anders als in Kanada werden Einwanderung und Multikulti in Deutschland nicht als selbstverständlich angesehen. Dabei leben hier sogar mehr Einwanderer als dort: Knapp 14 Millionen Menschen in Deutschland sind nicht hier geboren, in Kanada nur knappe 8 Millionen. Das sind dort 21%, in Deutschland machen die Zugewanderten wegen der größeren Bevölkerung 17 Prozent aus.
Integrationspolitik? In Deutschland lange Fehlanzeige
Doch Deutschland ging mit seinen Einwanderern lange völlig anders um als Kanada, erläutert uns wieder Charlotte Wohlfarth vom Sachverständigenrat für Integration und Migration:
„In Deutschland war lange umstritten, ob wir ein Einwanderungsland sind oder sein wollen. Wenn man die Zahlen betrachtet, dann ist klar, dass schon lange Menschen nach Deutschland einwandern und dass Einwanderer einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ausmachen. Schon seit 1957 wandern fast jedes Jahr mehr Menschen nach Deutschland zu als Deutschland verlassen.“ Doch weil man in Deutschland lange davon ausging, die Zuwanderer würden schon wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, sei hierzulande keine aktive Integrationspolitik entstanden, die Menschen unterstützt und zur Teilhabe befähigt:
„Zum Beispiel Sprachkurse oder auch eine frühzeitige Auseinandersetzung damit, was zunehmende Diversität eigentlich für gesellschaftliche Institutionen bedeutet, zum Beispiel für die Schulen, und wie diese damit umgehen können. Verpasst wurde aber auch, Migration politisch zu gestalten, also welche Voraussetzungen Menschen, die einwandern möchten, eigentlich erfüllen sollen und welche Regelungen wir dafür brauchen, denn es ist auch völlig klar, dass aufgrund des demografischen Wandels Deutschland qualifizierte Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt braucht.“
Tatsächlich ist die Situation in Deutschland auch deshalb komplexer als in Kanada, weil sich hier 1990 mit DDR und BRD zwei Länder mit komplett unterschiedlichen Ausgangslagen zusammenschlossen. In allen ostdeutschen Landtagen liegt die ausländerfeindliche AfD heute bei über 20 Prozent. Das wird Thema einer der nächsten Folgen von Auf Integrationskurs sein. Charlotte Wohlfarth erklärt, wo grundlegende Unterschiede zwischen Deutschland und Kanada liegen:
„Einwanderung kann zu gesellschaftlichen Konflikten führen, etwa um Verteilungsfragen, Diskriminierung, Zugehörigkeit und Anerkennung. Diese Konflikte treten häufig nicht in der ersten Generation auf, sondern werden erst in den Folgegenerationen sichtbar, weil die einen anderen Anspruch auf Teilhabe haben. Wir sind in Deutschland gerade dabei, diese Fragen gesellschaftlich auszuhandeln und unsere Identität als Einwanderungsland zu finden. Andere Einwanderungsländer sind uns da schon etwas voraus.“
Zuwanderung steuern: Kehrtwende zur Jahrtausendwende
Ist Kanada als selbstbewusstes Einwanderungsland also Vorbild für Deutschland? Die FAZ zum Beispiel titelte 2012: Von Kanada lernen: Wir brauchen die schlauen Zuwanderer.
Eine unangenehm populistische Schlagzeile, doch es lässt sich nicht leugnen: Die Wahrnehmung von Zuwanderung in Deutschland hängt auch mit dem Bildungsgrad der Migrant*innen zusammen.
Und diese Wahrnehmung ist noch immer stark von der Einwanderung der 1960er und 70er Jahre geprägt: Für die Arbeit in den Fabriken hatte die Bundesrepublik vor allem unqualifizierte Arbeitskräfte angeworben, deren Familienmitglieder häufig nachzogen. Quasi das Gegenteil des kanadischen Punktesystems, denn dort haben 40% aller Einwanderer einen Universitätsabschluss, aktuell mehr als die Hälfte.
Laut Charlotte Wohlfarth ging es bei der Zuwanderung in Deutschland lange Zeit vor allem um familiäre und humanitäre Migration, bei der Qualifikation keine Rolle spielte. Ein Umdenken habe ab der Jahrtausendwende eingesetzt: „Es gab wichtige Gesetzesänderungen wie die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 1999/2000 und das Zuwanderungsgesetz von 2005. Seitdem ist es leichter, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen und es gibt mit den Integrationskursen ein weitaus besseres Angebot zum Deutschlernen. Durch die blaue Karte und zuletzt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2019 wurde Zuwanderung zum Zweck der Erwerbstätigkeit erleichtert.“
Man dürfe aber auch nicht vergessen, dass ein großer Teil der Migration nach Deutschland sozusagen unter dem Radar stattfinde: die Migration innerhalb der Europäischen Union. „EU-Bürgerinnen und EU-Bürger haben ja ein Recht, nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten, und das machen auch viele. Für diese Gruppen sind die Regelungen also sehr liberal.“
Inzwischen sind von den in der jüngsten Zeit zugewanderten Menschen rund ein Drittel Akademiker. Im Vergleich: Von den Deutschen ohne Migrationshintergrund hat nur ein Fünftel einen Uni-Abschluss, zeigt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einer Studie aus dem Jahr 2020.
Chinatown in Kanada, Kleines Syrien in Deutschland?
„Zunehmend wurden auch Integration und chancengleiche Teilhabe in einer diversen Gesellschaft immer mehr als als politische Aufgabe wahrgenommen, und auch in der Gesellschaft hat sich Vieles geändert. Diversität ist heute viel selbstverständlicher als noch vor 20 Jahren. Die Mehrheit betrachtet Zuwanderung als Bereicherung.“ Wenngleich es noch immer Menschen gebe, die Deutschland nicht als Einwanderungsland verstanden wissen wollen, sei für die meisten Menschen aus Politik und Gesellschaft völlig klar: Eingewanderte und ihre Nachkommen gehören zu Deutschland dazu“, betont Wohlfarth.
Kommt mit dem allmählichen Umdenken auch die Integration? Unsere Gesprächspartnerin Claudette Ocando-Röhricht fordert in Folge 1: „Ich geb mich nicht damit zufrieden, dass die Integration nur in einer Richtung, in der Richtung der Migranten, erwartet wird.“
Erschwert wird die gegenseitige Annäherung allerdings dadurch, dass Zuwanderer häufig in typischen „Ausländervierteln“ leben. Grund sind billigere Mieten, aber natürlich auch der Wunsch nach Vertrautem.
Im kanadischen Toronto zum Beispieläußert sich in segregierten Stadtvierteln wie Little Italy, Chinatown oder Little El Salvador die kulturelle Vielfalt und wird durchaus positiv wahrgenommen. Hierzulande sprechen wir eher negativ von Ghettobildung. Charlotte Wohlfarth erklärt, warum zum Beispiel ein „Kleines Syrien“ der Integration im Wege steht:
„Stark segregierte Stadtviertel können Integration im Sinne von chancengleicher Teilhabe behindern, denn wenn Zugewanderte und sogenannte Einheimische keinen Kontakt zueinander haben, können nicht nur Vorurteile und Ängste entstehen. Es erschwert auch das Ankommen und Einfinden in eine neue Gesellschaft und ihrer Kultur.“ Dies sei ein wichtiger Unterschied zu englischsprachigen Einwanderungsländern, wo Zugewanderte oft schon Sprachkenntnisse mitbringen: „Bei uns sind aber Deutschkenntnisse immens wichtig, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Alltag. Denn auch wenn Zugewanderte im Sprachkurs Deutsch lernen, der Kontakt zu Einheimischen und damit die Möglichkeit, Deutsch regelmäßig zu sprechen, ist ungemein wichtig.“ Und auch deutsche System mit seiner komplexen Bürokratie könnten Zuwanderer kaum allein bewältigen: „All die Behördengänge sind eine große Herausforderung. Wie melde ich mein Kind zur Schule an, wie beantrage ich einen Kitaplatz, welche Rechte habe ich als Krankenversicherte, wie suche ich einen Job oder schreibe eine Bewerbung? Kontakte und Netzwerke in der Nachbarschaft können da helfen.“