Über Kanada - das Einwanderungsland aus dem Bilderbuch?


Kanada wächst und wächst. Nein, nicht das Land wird größer, sondern die Bevölkerung nimmt zu, und zwar so gleichmäßig, dass da irgendwie System dahinter stecken muss. 1980 lebten 24,5 Millionen Menschen in Amerikas nördlichstem Staat, 30 Jahre später sind es 38 Millionen. Zwischen 200- und 300-tausend Menschen wandern jährlich ein, ab 2016 sogar nochmal deutlich mehr. Rund 3000 Menschen zieht es übrigens jedes Jahr aus Deutschland nach Kanada.

Kontrollierte Einwanderung, von der ein Horst Seehofer nur träumen kann. Aber Kanada ist ja auch ein Einwanderungsland der ersten Stunde und hat Deutschland daher einiges an Erfahrung voraus.

Charlotte Wohlfarth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sachverständigenrat für Integration und Migration und erklärt uns, was ein klassisches Einwanderungsland ausmacht:

„Als klassisches Einwanderungsland bezeichnen wir ein Land, in dem ein bedeutender Teil der Bevölkerung eingewandert ist oder direkt von Einwanderern abstammt, also Länder wie die USA, Kanada und Australien, aber auch Argentinien oder Israel.“ Gleichzeitig beschreibe der Begriff aber auch ein politisches Konzept oder eine Herangehensweise, erläutert Wohlfarth: Einwanderung werde als selbstverständlich angesehen, politisch gesteuert und als Teil der nationalen Identität wahrgenommen.

„Ein Unterschied zwischen Einwanderungsländern wie Kanada oder Australien und Deutschland ist, dass diese Länder Einwanderinnen und Einwanderer viel stärker auswählen. Man muss hohe Anforderungen erfüllen, um einreisen zu können, zum Beispiel, was die Qualifikation angeht. Das heißt aber auch, wer jung und gut ausgebildet ist, bekommt eine Chance und kann diese Möglichkeit nutzen.“

Einwanderung lässt Kanadas Wirtschaft boomen

Kanada plant seine Einwanderung tatsächlich auf dem Reißbrett. Die Prognose für 2021 zum Beispiel, noch vor Corona erstellt, erwartet insgesamt 350.000 Einwanderer, davon rund 165.000 zwecks Erwerbstätigkeit nominierte Personen, 90.000 zur Familienzusammenführung und 55.000 aus humanitären Gründen.

Seit 1967 hat Kanada ein Punktesystem für potentielle Einwanderer etabliert. Nicht Herkunft, sondern Alter, Ausbildung, Beruf, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse und Anpassungsfähigkeit entscheiden darüber, wer dort sesshaft werden darf. Zuvor war Einwanderung fast ausschließlich aus Europa erwünscht.

Anlass für diese einerseits weltoffene, andererseits streng strukturierte Strategie gab damals die boomende Wirtschaft: Die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist eng mit dem volkswirtschaftlichen Erfolg verknüpft. Mehr als die Hälfte der Migranten hat einen Universitätsabschluss, die Regierung unterstützt durch Sprachkurse und bei der Jobsuche. 60 Prozent der Einwanderer kommen inzwischen aus Asien, vor allem aus China, Pakistan und Indien. Dass Migranten zu Wachstum und Wohlstand erheblich beitragen, stellt in Kanada auch kulturelle Vielfalt in ein positives Licht. Während „Mulit-kulti“ in Deutschland als nicht nur in Berlin-Neukölln gescheiterte Hippie-Idee belächelt wird, ist der Multiculturism Act in Kanada seit 1988 Gesetz: Er schreibt vor, die verschiedenen Kulturen gleichberechtigt anzuerkennen und zu fördern.

Kultureller Völkermord – Kanadas dunkle Geschichte

Kanada als Einwanderungsland aus dem Bilderbuch – so ganz funktioniert das Bild jedoch nicht. Denn zum einen trägt Kanadas Gesellschaft schwer an ihrer Vergangenheit, dem versuchten kulturellen Völkermord an der indigenen Bevölkerung. Auf der anderen Seite zeigt das straffe Punktesystem wenig humanitäre Züge, was im Sommer 2015 ins öffentliche Bewusstsein drängt: Damals wird die Leiche des zweijährigen Alan Kurdi aus Syrien im türkischen Bodrum an Land gespült, das traurige Foto geht um die Welt. Und der Vater gibt an, ihm sei zuvor in Kanada Asyl verweigert worden.


Zunächst ein Blick in die Vergangenheit: Im klassischen Einwanderungsland Kanada ist der dominante Bevölkerungsteil selbst aus Europa immigriert, als Konsequenz der Kolonialisierung durch Engländer und Franzosen. Die Menschen, die schon vorher da waren, fühlen sich 634 verschiedenenVölkern zugehörig, „First Nations“ genannt.

Doch ihr Leben im Einklang mit der Natur, die Jagd mit Pfeil und Bogen, der Glaube an den großen Geist, medizinische Rituale, Federschmuck und Tänze sollen verschwinden. So sehen es die Einwanderer, die das Kommando an sich gerissen haben. Mit der Staatsgründung 1867 wird die indigene Bevölkerung in Reservate gesperrt, Kinder aus den Familien gerissen.

Wie Christine erzählt, zwingt die Regierung die Nachkommen der First Nations in sogenannte Residential Schools. Insgesamt werden 150.000 Kinder in den Internaten systematisch und gewaltsam in ihrer kulturellen Identität gebrochen. Erst 1996 wird die letzte Residential School geschlossen. Ein Massengrab mit den Knochen von 215 Kindern ist nun Anfang Juni 2021 auf dem Gelände eines Internats entdeckt worden. Die Organisation Reconsiliation Canada spricht von einer Sterberate zwischen 40 und 60 Prozent in diesen Zwangsschulen.

Indigene finden jetzt erst ihre Sprache wieder

Cliff Standingready ist einer der Überlebenden. Er spreche kaum seine Muttersprache, erzählt er in einem Beitrag im Deutschlandradio Kultur. Der Familienname Standingready bedeutet: „Der, der bereit steht“. Seine Erfahrungen hat er in ein Buch geschrieben, eine Narbe an seiner Hand dokumentiert die Gewaltexzesse im Internat. „Töte den Indianer im Kind“ sei das Motto gewesen, mit schlimmen Konsequenzen: Als Menschen ohne Wurzeln, Herkunft und Vergangenheit sind viele von ihnen schwer psychisch krank und alkohol- oder drogensüchtig.

Das Sucht-Problem wiederum hängt den First Nations als Stigma an, ein Vorurteil, das diese Gruppe darüber hinaus belastet. Erst in den letzten Jahren entdecken viele indigene Kanadier ihre Identität wieder, lernen bei Pow-Wows zu tanzen oder die Sprache ihres Volkes zu sprechen. Prominente indigene Menschen leisten Aufklärungsarbeit in Schulen und Medien, um die Gesellschaft für die Situation der First Nations zu sensibilisieren.

Mehr Menschlichkeit: Kanada öffnet sich 2015 für Flüchtlinge

Der Fall des toten kleinen Alan Kurdi entlarvt 2015, dass Kanada mit seiner scheinbar perfekten Zuwanderung à la Carte den modernen Migrationsbewegungen nicht gerecht wird. 2015 ist Wahljahr, und die Kanadier fordern an den Urnen eine humanere Einwanderungspolitik, schildert die kanadische Migrationsforscherin Shaina Somers im Länderprofil der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Damit ist die Zeit für Justin Trudeau gekommen. „Jung, links, liberal“, titelt die Zeitung Die Welt über den frischen Präsidenten, die Washington Post nennt ihn den „neuen Kennedy“, sein Verhältnis zu Obama wird als „Bromance“ gefeiert. Trudeau löst sein Wahlversprechen ein und nimmt innerhalb von zwei Monaten 25.000 syrische Flüchtlinge auf. Er benennt die Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsbehörde um in Einwanderungs-, Flüchtlings- und Staatsbürgerschaftsbehörde.

Als US-Präsident Donald Trump im Januar 2017 Menschen aus diversen muslimischen Ländern die Einreise verweigert, twittert Justin Trudeau:

„An diejenigen, die vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen: Kanadier werden Sie ungeachtet Ihres Glaubens willkommen heißen. Vielfalt ist unsere Stärke.“ Hashtag WelcometoCanada.

Doch kurz darauf schränkt die Regierung durch eine straffe Festlegung der Flüchtlingskontingente die Offenheit schon wieder ein, schreibt Shaina Somers. Asylbewerber haben es auch in Trudeaus Kanada nicht leicht, anerkannt zu werden. Es gibt Regelungen über sichere Drittstaaten und eine Vereinbarung mit den USA, Australien, Neuseeland und Großbritannien, nach der sie nur in einem dieser Staaten Asyl beantragt dürfen. Wer zum Beispiel in den USA abgelehnt wurde, darf es in Kanada nicht versuchen. Zwischen 2016 und 2019 hat sich die Zahl der Asylbewerber mehr als verdoppelt auf jährlich rund 50.000. Gut 60 Prozent werden anerkannt. Die Wartezeiten auf die Anhörung betragen laut kanadischer Medien im Schnitt fast zwei Jahre.

Vorbild für Deutschland: Resettlement und Patenschaften

Der Großteil der Flüchtlinge jedoch kommt über das staatliche Umsiedlungsprogramm ins Land, für das weder Flucht noch Asylprozess notwendig sind. Das kanadische Resettlement ist für viele Migrationsforscher ein Vorbild. Weltweit einzigartig sind in diesem Kontext die privaten Flüchtlingspatenschaften, bei denen Privatpersonen oder kleine Organisationen ein Jahr lang die Kosten für die Lebenshaltung tragen und Flüchtlinge beim Ankommen in der Gesellschaft unterstützen.


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Über Deutschlands schwierige Erkenntnis: Wir sind Einwanderungsland!