Über Verfolgung und Schutz für queere Menschen


Queere Menschen wie Claudio werden in den meisten Ländern der Welt verfolgt. Obwohl dies für ihn nicht der Auslöser war, aus seinem Heimatland Venezuela zu flüchten, spielt die sexuelle Orientierung eine große Rolle im Asylprozess und der Integration. Wir nehmen dies zum Anlass, weltweit Verfolgung und Schutz für die Menschen unter die Lupe zu nehmen, die nicht dem althergebrachten Ideal heterosexueller Frauen und Männer entsprechen.

Wie viele Menschen in Deutschland Schutz suchen, weil sie queer sind, weiß niemand. Das Bamf führt eine Menge Statistiken, aber keine über Fluchtgründe. Fakt ist, dass mehr als die Hälfte der Länder weltweit Lesben, Schwule, bi-, trans- und intersexuelle Menschen (LGBTIQ) diskriminieren oder verfolgen. Laut dem Spartacus Gay Travel Index sind 2019 in 45 Staaten Menschen wegen ihrer Homo- oder Transsexualität ermordet worden.

Freiwild: In 120 Ländern sind queere Menschen schutzlos

In elf Ländern der Welt kann Homosexualität mit dem Tod bestraft werden, weil dort oder zumindest in einigen Gebieten des Landes das islamische Scharia-Recht gilt. Die Internationalen Lesben und Schwulen-Vereinigung Ilga zeichnet jedes Jahr auf einer Weltkarte ein, wo queere Menschen verfolgt oder geschützt werden. Rot steht für Verfolgung, und blutrot sind dort Saudi Arabien, der Jemen, Iran, Somalia, Nigeria, Pakistan, Afghanistan, Quatar, die Vereinigen Arabischen Emiraten, Brunai und Mauretanien.

In 56 weiteren Länder drohen bis zu lebenslange Haftstrafen, das sind die meisten afrikanischen Länder, Malaysia oder Myanmar in Südostasien, der Irak, Syrien und die Karibikstaaten Jamaika und Guyana.

55 Staaten wie Russland, China, Kasachstan, die Türkei oder Indien verfolgen queere Menschen zwar nicht per Gesetz, schützen sie aber auch nicht, und LGBTIQ-Organisationen sind verboten. Was dies in der Praxis bedeutet, zeigt das Beispiel Russland: Nicht Homosexualität, aber sogenannte „Homosexuelle Propaganda“ ist strafbar. Eine LGBTIQ-Kundgebung in St. Petersburg wird 2018 verboten, weil sie der Gesundheit von Kindern schade. Einzelpersonen, die trotzdem demonstrieren, nimmt die Polizei gewaltsam fest. Im Hintergrund befeuert die orthodoxe Kirche Hass und Diskriminierung, indem sie queere Menschen als abnorm darstellt – und damit zu Freiwild macht.

Schutz in Deutschland?

Alles in allem sind dies 120 potentielle Herkunftsländer für Schutzsuchende LGBTIQ in Deutschland. Die Grünen wollten 2019 von der Bundesregierung wissen, wie viele Asylanträge homosexuelle Menschen stellen und wie viele anerkannt oder abgelehnt werden. Doch die Regierung musste passen, eine Statistik existiert nicht. Um der Antwort trotzdem näher zu kommen, hilft nur ein Blick auf die Rechtslage und Einzelfälle.

Azur* ist Asylprozessbegleiterin beim Queer Refugees Network des Rosalinde e.V. in Leipzig und unterstützt queere Geflüchtete im Asylprozess und beim Coming Out: „Die Menschen, die zu uns in die Beratungsstelle kommen, sind vor allem aus Ländern, in denen LGBTIQ-Personen diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die Diskriminierung reicht von Stigmatisierung über psychische und physische Gewalt, aber auch in den meisten Fällen sexualisierte Gewalt. Zusätzlich ist noch zu erwähnen, dass viele Klientinnen auch aus Ländern kommen, in denen sie per Gesetz verfolgt wurden, also von Haftstrafen bis zur Todesstrafe.“

Aus diesem Grund verstecken die meisten Menschen in den Herkunftsländern ihre sexuelle Orientierung, soweit es geht. Bei Trans-Personen ist dies allerdings oft unmöglich, weshalb sie besonders häufig Opfer von Gewalt werden, erklärt Azur*. In Deutschland angekommen, stehen sie dann plötzlich vor der umgekehrten Herausforderung: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass sie aufgrund ihrer LGBTIQ-Zugehörigkeit Schutz benötigen.

Unter welchen Bedingungen gewährt Deutschland Asyl? Das lässt sich in Paragraf 3, Absatz 1 des Asylgesetzes nachlesen: bei begründeter Furcht vor Verfolgung. Konkret: Wenn körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt drohen, Diskriminierung durch Gesetze, Verwaltung, Polizei oder Justiz, beim Zugang zu Schulen, Universitäten, Ärzten und Krankenhäusern bis zur Benachteiligung im Job.

Outing vor deutschen Behörden

Viele Geflüchtete wissen aber gar nicht, dass sie aufgrund ihrer LGBTIQ-Zugehörigkeit in Deutschland Asyl bekommen können und sind extrem verunsichert, wie sie den Behörden gegenüber mit Ihrer sexuellen Orientierung umgehen können. Azur* wird zum Beispiel oft gefragt, ob gay, lesbisch oder transsexuell im Ausweis vermerkt werde: „Daran lässt sich auch nochmal erkennen, wie groß die Angst der Menschen ist, erkannt zu werden“, sagt sie.

Bei der Anhörung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben die Asylbewerber die einzige Chance, ihre Geschichte und damit die Motivation für ihren Asylantrag vorzutragen. Eine Situation, die für jede*n einzelne*n enorm belastend ist – für LGBTIQ-Personen ganz besonders. Das Problem beginnt schon mit den Übersetzern im Bamf, denn meistens sind dies Personen aus den Herkunftsländern. Ihnen gegenüber bestehe eine große Angst, dass Informationen nach außen getragen werden, sagt Azur*, vor allem den eigenen Familien gegenüber, wo in vielen Fällen Geringschätzung, Hass und Gewaltbereitschaft besonders groß sind.

Die Anhörung im Bamf ist für viele Menschen zugleich ihr Outing. Ob und wie sie in der Lage sind, ihre sexuelle Orientierung glaubwürdig darzustellen, entscheidet dann darüber, ob sie ein Bleiberecht in Deutschland bekommen. Nachdem in den Herkunftsländern das Verstecken ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität eine elementare Überlebensstrategie darstellte, müssen die Menschen nun plötzlich die Behörden genau davon überzeugen. Die Strategie, die sie ihr ganzes Leben lang an den Tag gelegt haben, kann zur Abschiebung führen. Eine riesige Herausforderung, findet Azur*.

Über die emotional komplexe Belastung hinaus ist auch die Entscheidungspraxis des Bamf über die Asylanträge bei den LGBTIQ-Organisationen stark in der Kritik. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge befand jahrelang, es sei queeren Menschen zumutbar, ihre Homosexualität dezent im Geheimen auszuleben, berichtet der Lesben- und Schwulen-Verband Deutschland LSVD. Die Asylanträge wurden also abgelehnt.

Ein wichtiges Datum ist daher der 7. November 2013. Damals entschied das Europäische Gericht für Menschenrechte, Homosexuelle hätten ein Recht darauf, ihre sexuelle Orientierung offen zu leben. Außerdem steht schon seit 1953 in der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens“. Die Menschenrechtskonvention ist in Deutschland geltendes Recht, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach entschieden, dass dies auch für Homosexuelle gilt.

Dennoch treffen das Bamf und die Gerichte nach wie vor Entscheidungen wie diese 2019 in Oldenburg, von der die Taz berichtet: Ein Homosexueller aus dem blutroten Pakistan habe doch die Möglichkeit, sich dort zu verstecken: In einigen Großstädten „leben potentielle Verfolgte aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als anderenorts“, urteilte das Verwaltungsgericht und ordnete die Ausreise an.

Bundestag hält Maghreb trotz Haftstrafen für sicher

Wenn in den Herkunftsstaaten nicht gezielt nach ihnen gefahndet wird, ist dies für das Bamf ebenfalls ein Grund, queere Asylbewerber abzulehnen, berichtet der LSVD. Zum Beispiel in den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien. Diese wollte der Bundestag daher im Januar 2019 als sichere Herkunftsstaaten – also auch für Homosexuelle – einstufen, wenngleich dort Haftstrafen drohen. Der Bundesrat stoppte die Entscheidung unter Einfluss der Grünen.

Die Deutsche Welle berichtet von einem Fall in Tunesien Anfang 2019. Ein junger Mann erstattete Anzeige wegen Raubes und Vergewaltigung, wurde im Zuge der Ermittlungen aber der Homosexualität beschuldigt und zur Klärung einer Anal-Untersuchung unterzogen. Letztlich verurteilte ihn das Gericht zu einem Jahr Haft. Viele Schwule würden bestohlen, erpresst oder sexuell misshandelt, mieden aber aus Angst die Polizei, erklärt ein tunesischer Menschenrechtsaktivist. Ein Muster auch in anderen Maghreb-Staaten.

Bamf: Nicht schwul genug, um Schutz zu brauchen?!

Das vielleicht größte Problem bei der Anerkennung queerer Geflüchteter ist allerdings der Glaube. Nicht der religiöse, sondern der an die tatsächliche Homo- oder Transsexualität. Das Bamf und die Gerichte unterstellen oft, Homosexualität sei eine asyltaktische Behauptung, und die Presse titelt dann: „nicht schwul genug?“

Die Frankfurter Rundschau erzählt den Fall eines 32-Jährigen aus Ägypten, wo laut Auswärtigem Amt Homosexuelle sogar mit DatingApps aufgespürt werden. Seit 15 Jahren habe er seine Neigung versteckt, sagte der Mann aus. Doch weil er sich in Bremen von einer Beratungsstelle für sein Coming out unterstützen ließ, vermutete das Bamf, „es geht um das Erforschen der eigenen Möglichkeiten und Wünsche. Derzeit ist und damals war beim Antragsteller alles disponibel“, zitiert die Zeitung aus dem Ablehnungsbescheid.

Ähnlich erging es dem 39-jährigen Andrei Preece aus St. Petersburg, seine Geschichte erzählt Die Welt. Preece sei seit 18 Jahren mit einem Mann zusammen und als Transvestit aufgetreten. Die Polizei habe ihn geschlagen, mehrfach festgenommen und erpresst. Doch sein Asylantrag wurde abgelehnt, ebenso wie sein Widerspruch vor dem Verwaltungsgericht Regensburg. Die Zeitung zitiert aus dem Urteil, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb er nach dem ersten sexuellen Kontakt mit einem Mann sofort die Erkenntnis gehabt habe, homosexuell zu sein.

Doch wie sicher können queere Menschen in Claudios Heimat Venezuela leben? Weltweit haben 66 Länder den Schutz in der Verfassung festgeschrieben oder zumindest Homo-Ehe und Adoption legalisiert. Venezuela gehört nicht dazu. Das venezolanische LGBTI-Netzwerk berichtete 2015 an die Vereinten Nationen: LGBTI leben dauerhaft in Situationen von Diskriminierung, Bedrohung und Angriffen auf ihre moralische, psychische und körperliche Integrität. Es gibt keine Gesetze, Sicherheiten und Institutionen, die Gleichheit in der Ausübung von Grundrechten und Freiheit garantieren. Will sagen: Homo- und Transphobie sind omnipräsent.

*Name geändert


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