Über Venezuela
Claudette und ihr Bruder Claudio haben ihr Land aus ganz unterschiedlichen Gründen verlassen. Die kleine Schwester verliebte sich schon als Schülerin in die Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie bei einem Auslandsjahr im Ruhrgebiet kennenlernte. Ihr großer Bruder Claudio hat nun aufgrund der humanitären Katastrophe in Leipzig Schutz gefunden.
Wie kam es dazu, dass Millionen Venezolanos aus ihrem Land flüchten?
Venezuela. Der Name des Landes zergeht auf der Zunge. Karibikstrände, Tafelberge, der höchste Wasserfall der Welt, das sagenhafte Orinoco-Delta – das Land ist gesegnet mit umwerfender Natur. Oberirdisch eines der schönsten Länder der Erde, bunkert Venezuela unterirdisch zudem die größten Ölreserven der Welt.
Doch das Land ist auf der Flucht. Bis Mai 2020 haben laut UN 5,1 Millionen Menschen Venezuela verlassen, das sind mehr als 15 Prozent der insgesamt 30 Millionen Venezolanos. Die meisten Geflüchteten leben in Kolumbien, Peru und Chile. Wie so oft kommt es auch hier zum Brain Drain: Das Land verliert seine Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Lehrer und damit auch die Chance auf Genesung.
Wenige Venezolanos in Deutschland anerkannt
529 Venezolaner haben von Januar bis Oktober 2020 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Anerkannt wurden als Asylberechtigte oder Flüchtlinge im selben Zeitraum nur 105, weitere 285 Menschen dürfen derzeit immerhin nicht abgeschoben werden. Europaweit steht Venezuela an Platz 3 der Fluchtstaaten mit fast 45.000 Geflüchteten 2019, von denen mehr als 40.000 in Spanien Schutz fanden.
Die Lage in Venezuela ist katastrophal, daran zweifelt niemand: Schon vor Corona gab es kaum Medikamente und Arbeit, der venezolanische Bolivar verliert seinen Wert so schnell wie keine andere Währung der Welt, Essen ist kaum bezahlbar. Ein Kilo Fleisch kostet zwei Monatslöhne, die Welternährungsorganisation warnt vor einer Hungersnot. Kinder gehen nicht mehr zur Schule, weil der Bus Geld kostet.
Doch vom deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bamf, als Flüchtling anerkannt zu werden, ist nicht einfach. In unserem Podcast kommt der Dresdner Jurist Michael Ton zu Wort, der Venezolanern in Deutschland Rechtsbeistand leistet. Er fordert, der Empfehlung des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR nachzukommen und einen generellen Abschiebestopp für alle Venezolanos festzulegen, wie ihn zum Beispiel Spanien umsetzt. Derzeit bestimme das Bamf nur dann ein Abschiebungsverbot, wenn die Geflüchteten gesundheitliche Probleme nachwiesen, da das Gesundheitssystem in Venezuela zusammengebrochen ist.
Aber warum müssen die Menschen überhaupt aus einem der potentiell reichsten Länder der Welt flüchten? 1977 sagte Ölminister Juan Pablo Pérez Alfonso die Katastrophe voraus: „In zwanzig, dreißig Jahren werden wir sehen, dass das Öl uns den Ruin bringen wird. Es ist das Exkrement des Teufels.“
Teufel im Paradies: Öl korrumpiert das Land
Tatsächlich hat das Öl das Paradies Venezuela in die Hölle der Korruption geführt. Korruption zersetzt Staaten, die zehn korruptesten Länder der Welt sind zugleich auch die Haupt-Fluchtländer. Absurd: Inzwischen importiert Venezuela seit Jahren einen Großteil seines Öls aus Griechenland und Russland. 1914 bohrte Venezuela zum ersten Mal ins Öl, die Förderung boomte in den 1970ern. Dank hoher Ölpreise konnte die Regierung von Hugo Chávez in den 2000er Jahren noch in Petro-Dollars baden, wenngleich die Förderung schon unter ihm rapide abnahm, wie die spanischen Tageszeitung El País schildert. Seit dem Sommer dieses Jahres wird nicht mehr gebohrt. Schuld sind vor allem veraltete Anlagen, Resultat von Korruption und mafiöser Strukturen. US-Sanktionen geben dem Öl-Imperium den Rest.
Messias Hugo Chávez verschleudert Petro-Dollars
Ein Blick zurück: Am 6. Dezember 1998 sind 56 Prozent der Venezolaner voller Euphorie. Hugo Chávez wird zum Präsidenten gewählt. Ein energiegeladener Offizier mit indigenen Wurzeln, der ankündigt, mit Korruption, Armut und der sozialen Ungleichheit aufzuräumen. Mit Chávez ist die bei vielen verhasste „paktierte Demokratie“ am Ende, in der sich Christ- und Sozialdemokraten seit Beginn der Demokratie 1958 an der Macht abgewechselt hatten.
"Die Situation war ein authentisches Desaster und er konnte sich als Retter aufspielen, weil die Venezolanos keinem der traditionellen Politiker mehr glaubten“, erklärt der Historiker Agustín Blanco Muñoz in BBC Mundo.
Was bleibt von der Hoffnung, 21 Jahre danach? Venezuela steht 2019 auf Platz 5 der korruptesten Länder der Welt in der jährlichen Liste von Transparency International, und natürlich spielt das „Exkrement des Teufels“ dabei die Hauptrolle. Die Chávez-Regierung hat Öl verstaatlicht und damit den staatlichen Ölkonzern PDVSA (sprich: Pedevesa) zum Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft gemacht. Rafael Ramírez war unter Hugo Chávez Präsident des PDVSA. Versteckt im Exil, plaudert er in der Dokumentation „Displaced“ der Deutschen Welle aus dem Nähkästchen. 700 Milliarden Dollar habe der Staat während seiner Amtszeit aus dem Ölkonzern gezogen. Was ist damit passiert?
Chávez platziert seine Kompagnons in Top-Positionen des Staatskonzerns, was ihnen direkten Zugriff auf die Öldollars verschafft. Mit einem Teil finanziert der Präsident seine populistischen Sozialprogramme, vor allem den Wohnungsbau, Milliarden landen aber auch auf privaten Konten: Die korrupte Elite habe die staatlichen Devisen dann noch auf dem Schwarzmarkt vermehrt, berichtet Ramírez. Unerlässliche Investitionen in die Industrieanlagen fallen dabei einfach unter dem Tisch.
So läuft Korruption: Das Land verfällt, die Eliten
zocken ab
„Venezuela ist ein krimineller Staat, wie von der Mafia geführt“, sagt der Journalist Cesar Batiz im Film der Deutschen Welle und erklärt am Beispiel der Elektrizität, wie Korruption in den Ruin führt: „Zuerst lässt man das Stromnetz verrotten und erklärt dann zweitens eine Elektrizitätskrise. Die Krise erlaubt drittens, Aufträge ohne Ausschreibungen zu vergeben, viertens kann man dann Freunde beauftragen und fünftens über Freunde mit überteuerten Preisen arbeiten. Sechstens lässt man diese nur Schrott einkaufen, was siebtens dazu führt, dass in Krankenhäusern der Strom ausfällt.“
So leidet das Volk schon, als die Petrodollars dank hoher Ölpreise noch sprudeln. 2008 erreicht der Ölpreis die Rekordmarke von 147 US-Dollar pro Barrel, und die Financial Times berichtet über Lebensmittelknappheit in Venezuela: Weil die Händler bei hoher Inflation und staatlich festgelegten Preisen ihre Kosten nicht mehr decken können, bieten sie keine Waren mehr an. Chávez‘ Methode: Der Lebensmittelhandel wird in die PDVSA eingegliedert, Privatbetriebe enteignet.
Dicke Hose: Alles wird eingekauft, nichts produziert
Die Dokumentation der Deutschen Welle zeigt die Konsequenzen: verlassene Fabriken. Nicht einmal Lebensmittel werden noch selbst produziert, sondern eingekauft. Chávez führt Waren des täglichen Bedarfs lieber mit den Öldollars aus dem Ausland ein, als die eigene Wirtschaft zu fördern. Der Staat ist zu fast 100 Prozent abhängig vom Öl- und Goldexport. Und dessen Geldhahn versiegt ab 2014 mit dem Ölpreis, als das Barrel auf 32 Dollar fällt.
Doch nicht nur die wirtschaftliche Situation, sondern auch Repressionen des Regimes setzen den Venezolanern seit Beginn des Chávez-Regimes zu. Der Präsident sucht die Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Kuba. Kubanische Militärs und Sicherheitsberater werden zur Überwachung des Militärs eingesetzt, um einem Putsch entgegen zu wirken. Aus Angst vor einer Intervention der USA werden lokale Milizen mit Waffen ausgestattet. Daraus entstehen die sogenannten „Colectivos“, bewaffnete Banden, die die Bevölkerung einschüchtern.
2013 stirbt Hugo Chávez, sein Nachfolger heißt Nicolás Maduro: von Beruf Busfahrer, Teil einer Stadtguerilla und in Kuba politisch geschult. Ihn erwischt der Öl-Crash 2014 knallhart. In den Jahren 2014 und 2017 gibt es große Protestwellen, Demonstranten fordern den Rücktritt der Maduro-Regierung und eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Die Regierung geht brutal gegen die Demonstranten vor. Bekannte Oppositionspolitiker werden verhaftet, andere gehen ins Exil. 2015 gewinnt ein Oppositionsbündnis die Parlamentswahlen. Doch Präsident Maduro erklärt den Notstand und regiert am Parlament vorbei.
Als Wirtschaftsreform lanciert die Maduro-Regierung 2018 die Kryptowährung „Petro“, die Investoren an den Ölreserven beteiligen soll – ein Petro entspricht einem Barrel aus dem unterirdischen Depot. Nebenbei streicht er fünf Nullen bei der Landeswährung und lässt fleißig neues Geld drucken. Doch das aufgeblasene Projekt findet keine Anerkennung und kann den Niedergang nicht aufhalten. Da Hauptkunde USA Anfang 2019 die Konten Venezuelas für den Ölhandel einfriert, erwirtschaftet das Land derzeit fast keine Devisen mehr.
Neue Hoffnung durch Interimspräsident Guaidó
Hoffnung atmen viele Venezolaner dennoch am 5. Januar 2019, als der smarte Oppositionelle Juán Guaidó zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt wird. Er erklärt sich zum Interimspräsidenten des Landes und wird von mehr als 50 Staaten anerkannt, darunter auch von der Europäischen Union, kann sich jedoch gegen das Regime nicht durchsetzen. Guaidó hat mit seiner Parallelregierung ein eigenes Oberstes Gericht und Botschafter in verschiedenen Ländern benannt.
Am 6. Dezember 2020 hat Venezuela nun ein neues Parlament gewählt. Doch wie schon bei den vergangenen Wahlgängen wird dies keine Veränderung der politischen Lage bringen. Nur ein knappes Drittel der Wahlberechtigten beteiligte sich. Guaidós Oppositionsbündnis hatte die Wahl von vornherein boykottiert, weil es mit Wahlbetrug rechnete. Präsident Nicolás Maduro bezeichnete die Oppositionsparteien als Teil einer Verschwörung. Das Resultat des Boykotts ist, dass nun auch das Parlament wieder von Nicolás Maduros Wahlbündnis Gran Polo Patriótico dominiert wird, mit knapp 70 Prozent der Stimmen.
Das Verhältnis der Maduro-Regierung vor allem zu den USA ist völlig zerrüttet. Weil Teile des venezolanischen Militärs in den internationalen Drogenhandel verwickelt sind, setzen die USA im März 2020 sogar ein millionenschweres Kopfgeld auf Präsident Maduro aus. Das steigert die Paranoia der Regierung vor einem Putschversuch.
Humanitäre Katastrophe: 96 Prozent der Haushalte in Armut
Der Alltag für die Menschen sieht so aus: Einkaufen im schlecht gefüllten Supermarkt kann sich nur leisten, wer Angehörige im Ausland hat, die mit Geld helfen. Die Inflation ist mit Abstand die höchste weltweit, und wer das Glück hat, Arbeit zu haben, kann mit einem Gehalt in venezolanischem Bolivar kaum Reis oder Mehl kaufen. Viele Familien essen einmal am Tag.
Bei der Deutschen Welle kommt Mirle Quijada zu Wort. Sie und ihre sieben Kinder überleben nur, weil ihr Mann nach Peru gegangen ist. „Wir wären sonst verhungert“, sagt Mirle Quijada. Die Kindersterblichkeit steigt bereits seit 2007 rapide an.
Hunger, Panik, Gewalt... das ist die Spirale, in der sich das Land seit Jahren dreht. 96 Prozent der Haushalte leben in Armut, 79 Prozent in extremer Armut, sagen die Zahlen des Sozialforschungsinstitutes Encovi. Durch Corona hat sich der Alltagshorror weiter verschärft.
Menschenrechte? UN untersucht Hinrichtungen und Folter
Auch Meinungsfreiheit und Menschenrechte sind mit der Staatskorruption untergegangen. Kritische private Medien wie der Fernsehsender Globovision wurden ausgehöhlt und schließlich vom Staat übernommen. Wer kritisiert oder gar Korruption aufdeckt, landet im Knast.
Der UN-Menschenrechtsrat UNHRC untersuchte 2019 außergerichtliche Hinrichtungen, das Verschwindenlassen von Menschen und willkürliche Festnahmen und Folter seit 2014. 2500 Menschenrechtsverletzungen deckte das Komitee auf, darunter 53 Hinrichtungen: „ein Verbrechen gegen die Menschheit“, verübt durch die Spezialkräfte der Geheimdienste und die Colectivos, gedeckt durch Staatschef Nicolás Maduro.
Die vom UNHRC untersuchten Fälle sind nur die Spitze des Gewaltberges in Venezuela. Aussteigerin Merian Zorilla, ehemalige Polizistin der Spezialeinheiten, spricht von Tausenden außergerichtlichen Hinrichtungen. Das Kamerateam der Deutschen Welle ist zu Besuch bei ihr in Berlin. Dorthin ist Zorilla geflohen, nachdem sie das Massaker an Ex-Geheimdienstler Oscar Pérez und seinen Mitstreitern erlebt hatte, die im Januar 2018 einen Putsch gegen Maduro versucht hatten. Bei einer Spezialeinheit auszusteigen, ist lebensgefährlich, Merian Zorilla hat daher in Berlin Schutz gefunden. Doch ihre kleine Tochter wartet noch in Venezuela. Ohne Pass darf sie nicht zu ihrer Mutter kommen.