Über die Liebe jüdischer Flüchtlinge zum Land der Täter


Wie kann es sein, dass Yoavs Großeltern in Israel ihr Leben lang deutsche Kultur lebten und liebten? Sie aus Berlin, er aus Breslau, hatten die beiden 1933 nach der Machtergreifung vor Hitlers tödlichem Regime fliehen können. Doch ihre kompletten Familien wurden von den Nazis ermordet. Die Deutschland-Freundlichkeit seiner Großeltern können wir daher kaum nachvollziehen, und wir fragen bei Yoav nochmal nach.

„Viele Holocaust-Überlebende haben sich selbst immer als Deutsche gefühlt“, erzählt er uns. Sein Großvater sei zum Beispiel nie mit dem israelischen Essen zurechtgekommen: „Er hat bis zu seinem Tod das deutsche Essen vermisst und immer Sat 1, 3Sat und RTL geschaut“, sagt Yoav. „Sie haben den Holocaust nie mit der deutschen Kultur in Verbindung gebracht.“

Holocaust-Gedenkstätte: Pragmatische Sicht auf Hitler-Regime

Yoav empfiehlt, dass wir uns Videos des Fernstudienprogramms der Universität Tel Aviv und der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem ansehen: Sie erklären Israelis die Machtergreifung und den Wandel im Hitler-Deutschland und liefern eine überraschend pragmatische Sicht auf die Jahre nach 1933. Das 3. Reich wird darin sogar als Wohlfahrtsstaat beleuchtet, wenngleich rassistisch, in dem, wer weder Jude, Kommunist*in noch Roma war, ein angenehmes Leben führen konnte - besser sogar, als vor der Machtergreifung:

Die Videos zeigen zufriedene, fröhliche Menschen in Berlin und in ihren Wohnzimmern: Die Leute hatten wieder Arbeit und konnten in die Sommerferien fahren. Und es gab kostenlose Radios für alle! Nun gut, das waren die berühmten Volksempfänger mit nur einem Kanal und einem Ziel: Nazi-Propaganda.

Nicht die deutsche Kultur hat unsere Familie getötet

Wie gingen die Menschen damals mit dieser ständigen Einflussnahme auf ihr Privatleben um, fragt Professorin Havi Dreyfuß im Video. Um ihren Studenten die Situation im Deutschland nach der Machtergreifung zu erklären, zitiert sie Sebastian Haffner aus seinem Buch „Geschichte eines Deutschen“:

Dieser beschreibt, wie kontinuierlich die bekannte Welt verschwindet und ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird: „Die vertraute Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Radio war ins Konzentrationslager geschickt worden, die beliebten Schauspieler, Teile des eigenen Lebens, verschwanden von einem Tag auf den anderen“, heißt es dort. In Haffners Worten wird verständlich, was Yoav meint: Das Deutschland seiner Großeltern hatte nichts zu tun mit dem verrohten Hitler-Deutschland von SA, Gestapo und SS, nächtlichen Deportationen und der Reichskristallnacht. Als diese Gräueltaten passierten, existierte ihr Land schon nicht mehr.

„Die Nazis haben für meine Großeltern nie die Menschen in Deutschland repräsentiert. Die meisten Menschen hielten sich nicht an die Boykotts der Nazis. Die Leute haben weiter in jüdischen Geschäften eingekauft, zumindest am Anfang, bevor der Druck zu groß wurde. Für meine Großeltern war es nicht die deutsche Kultur, die ihre Familien getötet hat! Denn die war ihre Heimat.“

Es gibt keine Probleme mit Deutschen“

Obwohl die Nazis zum Boykott gegen jüdische Geschäfte aufriefen und Kinder von der Schule ausgeschlossen wurden, emigrierten 1933 nur 37.000 der mehr als 500.000 Juden in Deutschland. 1934 und 35 ebbte die Auswanderungswelle sogar wieder ab, bis zu den Nürnberger Rassegesetzen 1935. Die Historikerin im Video erklärt es so: „Die historische Realität wurde von den deutschen Juden zu der Zeit nicht so verstanden, wie wir sie heute sehen. Einige von denen, die Deutschland verließen, kamen sogar zurück, da sie trotz aller Ängste dachten, das Nazi-Regime sei an anderen Feinden stärker interessiert als an den Juden.“

Viele Holocaust-Überlebende fühlten sich immer noch als Deutsche, sagt Yoav. Wie die Videos zeigen: Der Umgang mit Nazi-Deutschland ist im heutigen Israel sehr undramatisch und auf historische Analyse bedacht. „Die Mehrheit wird Deutschland nicht lobpreisen, aber es gibt keine Probleme, mit Deutschen zu reden, deutsche Produkte zu kaufen oder das Land zu besuchen“, erklärt uns Yoav. Aber er hat auch einen Freund, der nie einen Fuß nach Deutschland setzen würden, obwohl dessen Familie nicht im Holocaust ermordet wurde.

Yoav kann seinen Großeltern gut nachfühlen. „Mir geht es ja ähnlich. Nur, weil ich Netanjahu nicht mag, hasse ich nicht mein Land. Meine Großeltern hätten doch ihre eigene Identität verloren.”


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Über Alpträume israelischer Soldaten in Palästinensergebieten